Konzept

Eine Oper, in der auf der Bühne selbst kaum gehandelt, sondern nur erzählt, eine blutige Vorgeschichte um die tödliche Gefahr einer zu vernichtenden weiblichen, urmütterlichen Gefahr in mehreren Variationen erinnert, geradezu beschworen wird, stellt automatisch die Frage nach der politischen und religiösen Funktion von Erzählungen und Mythen über das Weibliche für patriarchale Gesellschaften. Auch und gerade heute noch in einer Welt, in der unsere Vorstellungen von sexueller Identität maßgeblich über diejenigen Bilder geprägt sind, die wir über visuelle Medien vom Mann- und Frausein projizieren. Der Blick ist es, der sexuelles Begehren steuert und sexuelle Identität determinieren will. Und allerseits bezeugte Erzählungen sind es, die – unabhängig von der Frage ihres „objektiven“ Wahrheitgehaltes“ – die Kraft des Faktischen überhaupt erst erzeugen und damit Wirklichkeit konstituieren…

In Verdis „Il Trovatore“, so der Ansatzpunkt für unsere Inszenierung am Theater Freiburg, geht es um das Erzählen, das kollektive Identität stiftet für ein männerbündisches System, das Weiblichkeit nur als zu unterwerfende Gefahr des Anderen (Azucena) oder als Projektion des eigenen Begehrens (Leonora) versteht. Um die Identität einer Gesellschaft, die sich alleine über die Tradierung eines patriarchalen Mythos (einer von Generation zu Generation vererbten Erzählung) konstituiert – und darüber jede Gegenwärtigkeit und Zukunftsfähigkeit einbüßt. Insofern um die Identität einer untoten Gesellschaft, die nicht im Stande ist aus dem Mythos auszubrechen und einen Neuanfang zu setzen – weil die klischeebeladenen Rollen- und Genderbilder, die der Mythos den einzelnen Figuren als Handlungsrahmen vorgibt, jedwedes individuell-selbstbestimmtes, verantwortungsvoll-autonomes Handeln unmöglich machen; stattdessen einzig einem Schicksals- und Rachegedanken folgen der die patriarchale Blutsbande über individuelle Entscheidungsfähigkeit stellt. Insofern um eine Gesellschaft, die gefangen ist im ewigen Kreislauf einer wiederkehrenden Erzählung, eine Gesellschaft, die weder sterben noch leben kann. (Die letzten Worte der Oper lauten nicht von ungefähr: „Und  ich lebe noch!“)

Stilistisch im Gewand eines bizarren, spätromantischen Schauerromans, der (private) Leidenschaften wie Eifersucht, Hass, Rache zur (politischen) Handlungsmaxime erhebt, erzählt dieser Mythos von der bösen „Zigeunerin“ von der tradierten Angst eines männerbündischen Patriarchats vor der kreatürlichen Kraft des Weiblichen, die auf die Zigeuner-Figur der Azucena und deren weibliche Vorfahren projiziert wird. Nicht von Ungefähr beginnt die Oper mit der männlichen Beschwörung und damit mit der gesellschaftsstiftenden Kraft dieses Mythos (bei uns in einem sakral-mythischen Raum, der Kirche und Kino zugleich ist.) Azucena wird damit zunächst als „femme fatale“ aufgerufen, die der patriarchale Diskurs als inhärente Bedrohung erzeugt, um die eigene Identität gegen sie behaupten zu können. Allerdings: die klassische femme fatale muss am Ende bezahlen, damit die alten Verhältnisse wieder hergestellt können. Anders bei Verdi:

Das Besondere an Il Trovatore ist nun, dass der nämliche, zu Beginn der Oper beschworene Mythos dann, zu Beginn des zweiten Aktes, auch aus Sicht dieses vermeintlich dämonisch Weiblichen erzählt und somit anders perspektiviert wird: Azucena, die als das Ausgeschlossene „die Figur des Feindes“ verkörpert, das „Fundamentalphantasma“ (Slavoj Zizek), dem gegenüber sich männliche Identität definiert und aufrechterhält (und mit Hilfe derer sich das patriarchale System seiner Legitimität versichern kann) wendet die Kraft des Mythos schlussendlich gegen das Patriarchat, um sich an der ihr und ihren Vorfahren angetanen Gewalt zu rächen und das Patriarchat zu zerstören: mit den Mitteln des Patriarchats selbst, mittels eines seiner Söhne (dem geraubten Grafen-Sohn Manrico, der seine wahre Herkunft als Bruder seines Todfeindes bis zuletzt nicht erkennt), den sie zur Speerspitze für den Kampf gegen den Männerbund erzieht und instrumentalisiert gleichermaßen.

Wo und wie aber wird heute in Gesellschaften massenwirksam, popkulturell erzählt, gerade auch über Männlichkeits- und Weiblichkeitsbilder, wo werden unsere Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit, von sexueller Identität geprägt? Über die visuellen Medien, über die Allgegenwärtigkeit von Bildern. Bilder bestimmen unser Leben. Die Wirklichkeit erscheint uns oft nur noch über die visuellen Medien, unüberprüfbar, ob die Realität und unser Bild davon überhaupt deckungsgleich sind. Deshalb steht in unserer Inszenierung ein Kinoraum auf der Bühne, der zugleich zur sakralen Bilderstätte für männliche Kulturreproduktion wird. Und auf die Leinwand in diesem Kinoraum werden im Comicstil (der Comic als moderne Variante antiker Mythenwelten) jene Bilder der blutigen Vorgeschichte projiziert, die Ferrando als vermeintlich „wahre“ Geschichte entwirft, beschwört, um die männlichen Nachfahren des Adelgeschlechts von Luna einzuschwören auf den Kampf gegen die weibliche, scheinbar allgegenwärtige Gefahr…

Doch so wie es bei Verdi eine zweite Seite der Geschichte, eine andere – eben weibliche – Perspektive auf das der Oper vorgelagerte, lediglich erinnerte Geschehen gibt, hat auch bei uns der Kinoraum eine – zunächst nicht sichtbare – Rückseite: Er steht auf weiblichem Urgrund und entpuppt sich mehr und mehr als Organ, das die Männerwelt auffrisst: Wir alle sind Azucenas Kinder. Und für uns alle bedeutet die Rückkehr in die Mutter eine Rückkehr zu unserer verdrängten Identität…